Zeit statt Geld
Entlastung und Zeitsouveränität: Für die Chemie-Beschäftigten hat die IG BCE das mit dem individuellen Zukunftskonto in der Tarifrunde 2019 durchgesetzt. Mit dem Thema Zeit befasst sich die Gewerkschaft wegen steigender Arbeitsbelastung schon lange.
Die Arbeitszeit an die Bedürfnisse der Beschäftigten in unterschiedlichen Lebensphasen und Belastungssituationen anpassen: Das ist schon lange Ziel der IG BCE. Deshalb hat sie Altersfreizeiten und Langzeitkonten durchgesetzt und den 2008 vereinbarten Tarifvertrag „Demografie und Lebensarbeit“ mehrfach erweitert. Gleichzeitig nahmen die Belastungen am Arbeitsplatz weiter zu. Der Wunsch der Beschäftigten nach größerer Souveränität und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten wuchs.
Bereits in der Chemie-Tarifrunde 2018 wurde deshalb die Diskussion über Arbeitszeitsouveränität und die Wahloption ,,Zeit statt Geld“ mit großer Vehemenz geführt. Ergebnis war die „Roadmap Arbeit 4.0“, die in der Tarifrunde 2019 unter dem Aufruf „Es wird Zeit!“ zum Tarifvertrag „Moderne Arbeitswelt“ führte.
Eine wichtige Komponente daraus ist der individuelle Zukunftsbetrag für jeden Beschäftigten und Auszubildenden. Er wird über die Jahre 2020 bis 2022 gestaffelt eingeführt und hat ab 2022 dauerhaft einen Wert von 23 Prozent eines tariflichen Monatsentgelts. Das entspricht fünf freien Tagen. Acht unterschiedliche Zwecke können die Betriebe den Beschäftigten zur Verwendung ihres Zukunftsbetrages zur Wahl stellen. Freie Tage können beispielsweise jährlich genommen oder der Zukunftsbetrag kann auf Langzeitkonten angespart oder für die Altersvorsorge verwendet werden. Auch eine Auszahlung des Zukunftsbetrages in Geld ist möglich. Der Tarifvertrag ermöglicht so kurzfristige Entlastungen und schnelles Reagieren zum Beispiel auf familiäre Anforderungen. Die konkreten Wahloptionen regeln die Betriebsparteien. Fast alle abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen enthalten eine Freizeitoption. Auch die Auffangregelung sieht diese vor. Dort wird der Zukunftsbetrag jeweils zur Hälfte in Freizeit und in Geld gewährt. Die Auffangregelung greift in den Betrieben, in denen sich Arbeitgeber und Betriebsrat nicht auf Verwendungszwecke einigen.
Eine weitere wichtige Komponente aus dem Tarifvertrag „Moderne Arbeitswelt“ ist die individuelle Arbeitszeit. Sie ermöglicht eine Anpassung des Arbeitsvolumens an unterschiedliche Anforderungen und Bedürfnisse der Beschäftigten. Durch sie kann die Arbeitszeit bei Ausgleich in Zeit oder Geld abweichend von der tariflichen Arbeitszeit vereinbart werden.
Acht unterschiedliche Zwecke können die Betriebe den Beschäftigten zur Verwendung ihres Zukunftsbetrages zur Wahl stellen.
Jugend: Zeit wichtiger als Geld
Wichtig und attraktiv sind diese Möglichkeiten insbesondere für junge Menschen. Denn seit einigen Jahren zeigt sich, dass Zeit ihnen mindestens genauso wichtig oder sogar wichtiger ist als Geld. Das gilt vor allem für die Generation Z (ab 1995 Geborene). Sie wollen mehr Zeit für Familie, Freund*innen und Hobbys. Die Unterschiede zwischen Auszubildenden und jungen Beschäftigten in der Großchemie und solchen in kleinen Unternehmen mit Haustarifverträgen können allerdings groß sein.
In vielen Tarifrunden hat die IG BCE Themen, die jungen Menschen wichtig sind, vereinbart. Dazu zählen die teils weitreichenden Regelungen für lebensphasenorientiertes Arbeiten. Auszubildende erhalten in der chemischen Industrie außerdem unter anderem zusätzliche freie Zeit für die Prüfungsvorbereitung (Tarifabschluss 2018). Damit zeigt die IG BCE, dass Tarifpolitik weit mehr ist als Einkommen.
Potsdamer Modell und Wahlarbeitszeit
Eindrücklich beweist dies auch das Potsdamer Modell, das mit der Tarifrunde Chemie Ost 2017 vereinbart und mit dem Angleichungsprozess der Wochenarbeitszeiten in den Tarifbereichen Ost und West auf den Weg gebracht wurde. Dieser Prozess wird 2023 abgeschlossen sein. Die Wochenarbeitszeiten werden allerdings nicht nur durch das bloße Vereinheitlichen angepasst. Stattdessen ermöglicht das Potsdamer Modell den Beschäftigten, persönliche Belange und Arbeitszeitanforderungen miteinander in Übereinstimmung zu bringen.
Kernelement ist einerseits eine in Abhängigkeit vom benötigten Arbeitsvolumen betrieblich festzulegende Wochenarbeitszeit innerhalb eines Korridors von 32 bis 40 Stunden. Vollzeitarbeit wurde dadurch neu definiert und kann mit Blick auf das jeweilige Arbeitszeitsystem und die Arbeitsbedingungen differenziert festgelegt werden. Andererseits beinhaltet das Potsdamer Modell mit der individuellen Wahlarbeitszeit die Möglichkeit, persönliche Arbeitszeitwünsche und individuelle Arbeitsanforderungen zu berücksichtigen, ohne, dass die mit Teilzeitarbeit üblicherweise verbundenen Probleme auftreten.
Die neue Kombination von betrieblichen und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten sowie das Zusammenspiel mit den bereits bestehenden Regelungen des Tarifvertrages „Lebensphasenorientierte Arbeitszeit“ bot die Chance für innovative Lösungen. Auf Basis des Potsdamer Modells entstanden viele fortschrittliche betriebliche Regelungen.
Brückenteilzeit
Die Arbeitszeit für einen gewissen Zeitraum zu reduzieren, zählt auch zu lebensphasenorientierter Arbeitszeit. Seit 2019 haben alle Beschäftigten Anspruch auf eine befristete Teilzeit – die so genannte Brückenteilzeit. Erzielt wurde sie gemeinsam von Gewerkschaften und Frauenverbänden und ist somit auch ein Erfolg der IG BCE. Damit gibt es erstmals anlassunabhängig einen Anspruch auf eine befristete Reduzierung der Arbeitszeit. Dies ist auch vor dem Hintergrund psychischer Belastungen in der Arbeitswelt ein Fortschritt. Mit Broschüren, Konferenzen, Seminaren sowie einer Talk Time hat die IG BCE die Einführung begleitet und zum Weltfrauentag in die Betriebe gebracht.
Dass die Brückenteilzeit notwendig ist, zeigen die Zahlen: 2019 lag die Teilzeitquote erwerbstätiger Frauen mit minderjährigen Kindern bei 66 Prozent, bei Männern bei sechs Prozent. Die Corona-Krise hat die Situation verschärft: Jede dritte berufstätige Frau reduzierte in der Pandemie die Arbeitszeit. Bei den Männern war es einer von fünf.