EINSTIEG

Vorwort

Foto: Christian Burkert

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

selten hat sich innerhalb von vier Jahren die Welt so sehr verändert.

Was vor Corona wichtig war, liegt in der Erinnerung weit zurück, neues ist hinzugekommen, wie ein noch ambitionierterer Klimaplan in Europa. Aber natürlich, hat das Virus von heute auf morgen auch die Agenda des gewerkschaftlichen Handelns umgeschrieben.

Seit März 2019 hat die Pandemie unserer IG BCE rasches Krisenmanagement abgefordert. Gesundheit schützen, die Infektionsgefahr im Betrieb bannen, das war von da an die erstrangige Aufgabe. Gleich gefolgt von der Herausforderung, den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch in der Nachkriegsgeschichte zu bewältigen: Beschäftigung und Einkommen sichern, Arbeitsplätze und Produktion erhalten, die Konjunktur wieder hochfahren.

Zieht man gut zwei Jahre später Bilanz, dann stellt sich durchaus Stolz ein. Wie gut, dass wir uns in dieser schlimmen Herausforderung auf unsere IG BCE verlassen konnten.

  • Auf eine Organisation, die mit ihren Betriebsräten und Vertrauensleuten in den Unternehmen Hygienekonzepte und eine coronagerechte Arbeitsorganisation aus dem Boden gestampft hat.
  • Die eine Vielzahl an Vereinbarungen zur Standort- und Beschäftigungssicherung geschlossen hat, mit sozial geregelter statt willkürlicher Kurzarbeit, und in den meisten Fällen mit tariflich garantierter Aufstockung.
  • Die in Verhandlungen mit der Bundesregierung und den Wirtschaftsverbänden Hilfen für Familien im Betreuungsnotstand erreichen konnte.
  • Die gemeinsam mit dem DGB und den Schwestergewerkschaften Einfluss nehmen konnte auf die Stabilisierungs- und Investitionsprogramme für Unternehmen und Konjunktur.

In der Pandemie ist nicht nur das konservative Dogma der „schwarzen Null“ in der Haushaltspolitik gefallen. Erstmals seit der Finanzkrise 2008/2009 hat die Bundesregierung auch in der Europäischen Union eine offensive Investitionspolitik ermöglicht. Mit der strategischen Entscheidung, die Folgen der Pandemie aus einem solidarisch getragenen EU-Fonds zu finanzieren, konnte ein wichtiges Signal des europäischen Zusammenhalts gesetzt werden – und seitdem gibt es gute Chancen, überall in der Gemeinschaft wirtschaftliche Dynamik mit neuen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu entwickeln. Für diese Perspektive haben wir nicht zuletzt auch mit unserem europäischen Dachverband IndustriAll Europe erfolgreich gekämpft.

Der Aufbruch Europas wird verbunden mit dem von der EU-Kommission aufgelegten „Green Deal“. Das ist die europäische Antwort auf die weltweite Aufgabe, den CO2-Ausstoß zu reduzieren und die Erderwärmung auf möglichst zwei Grad zu begrenzen. Wo bislang die Formulierung immer härterer Ziele zur CO2-Einsparung in immer kürzerer Zeit im Vordergrund stand, sollen nun die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen dafür geschaffen werden.

Unsere Gewerkschaft hat dies immer schon eingefordert, auf europäischer und nationaler Ebene. Den notwendigen Strukturwandel sozial verantwortlich und ökonomisch vernünftig zu gestalten, das war die durchgängige Herausforderung seit 2017. Eine Herausforderung, die im Zeichen von Corona nur scheinbar an aktueller Bedeutung verloren hat.

In der langen, harten Auseinandersetzung um das Ende der Kohle-Verstromung in Deutschland konnten wir dokumentieren, wie schwierig der Transformationsprozess in der Realität ist und noch sein wird. Und wir konnten erreichen, was uns schon in der Steinkohle gelungen ist. Mit dem durchgesetzten Anpassungsgeld und zusätzlicher tariflicher Absicherung sind die betroffenen Kolleg*innen geschützt, niemand fällt ins Bergfreie. Was bleibt, ist nicht nur der schmerzliche Verlust von guten Arbeitsplätzen im sichersten Bergbau weltweit, ob Stein- oder Braunkohle, sondern auch der Abschied von der besonderen Kultur der Solidarität und der bergmännischen Tradition, die nicht nur die Reviere, sondern auch die Industriegeschichte und die Gesellschaft unseres Landes geprägt haben.

In der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ konnten wir zudem erreichen, dass der Strukturwandel in den Braunkohleregionen mit massiven öffentlichen Investitionen in neue Industrien und Arbeitsplätze begleitet wird. Das ist beispiellos in der Nachkriegsgeschichte und ein Erfolg unserer Kolleg*innen, die über Monate mit Demonstrationen, Mahnwachen, Unterschriftensammlungen und vielen weiteren Aktionen Druck gemacht haben. Mit der Mobilisierungsfähigkeit unserer IG BCE konnten wir ein Gegengewicht zu den Kampagnen der Umweltverbände bilden, die ein sofortiges Ende der Kohle forderten.

Diese Mobilisierungsfähigkeit und die Kompetenz in der Sache waren auch immer wieder gefordert, wenn es um die klimapolitische Transformation unserer energieintensiven Industrien ging. Bei Befreiung von der EEG-Umlage genauso wie beispielsweise in der Chemikalienpolitik. Unsere IG BCE hat politisches Gewicht und genießt Respekt und Ansehen, das mussten und konnten wir immer wieder in die politische und gesellschaftliche Debatte um die industriepolitische Zukunftsgestaltung einbringen.

Auf die Transformation im Zeichen der drei „Ds“ – Defossilisierung, Digitalisierung, Demografischer Wandel – haben wir uns zugleich systematisch vorbereitet: mit einem Szenarienprozess, dem Zukunftskongress in Bochum, dem Grünbuch und den in den Delegiertenkonferenzen diskutierten Schlussfolgerungen daraus. Der Bericht der Zukunftskommission Digitale Agenda hat das ergänzt, nicht zuletzt auch durch den Umsetzungsprozess und Sozialpartnerdialog „work@industry“ in der Chemie. Wir werden diese Debatten auf unserem Kongress im Oktober fortsetzen und mit unseren Beschlüssen die Programmatik der IG BCE entsprechend fortschreiben

Klar ist, dass wir als Organisation stark bleiben müssen, um die Erfolge fortschreiben zu können, auf die wir im Rückblick der vergangenen vier Jahre stolz sein können. Wir sind nach wie vor die Gewerkschaft, die in der Tarifpolitik Maßstäbe setzt. Beim Entgelt mit Abschlüssen, die für echte Teilhabe der Beschäftigten am wirtschaftlichen Erfolg sorgen. Und die darüber hinaus qualitativen Fortschritt in Arbeits- und Lebensbedingungen unserer Mitglieder durchsetzt, etwa mit größerer Wahlfreiheit bei der Arbeitszeit oder auch mit der neuen Absicherung des Pflegerisikos. Erkennbar ist allerdings auch in unseren Branchen eine Tendenz im Arbeitgeberlager, sich der gewerkschaftlichen Mitgestaltung entziehen zu wollen, trotz der vergleichsweise nach wie vor hohen Tarifbindung.

Wir haben daher große Anstrengungen unternommen, um die Stärken unserer IG BCE zu bewahren und fortzuentwickeln. Und diese Stärke resultiert ganz wesentlich aus der starken Basis in den Unternehmen, mit Betriebsräten und Vertrauensleuten, und in den Regionen mit unseren Ortsgruppen. Enge Anbindung an die Organisation, Funktionär*innen mit gewerkschaftlichem Herzblut, Zusammenhalt und Solidarität – das hat unsere Gewerkschaft auch in den Jahren seit dem Kongress 2017 ausgezeichnet. Deshalb haben wir unser Angebot an Betriebsräte ausgebaut sowie die Vertrauensleutearbeit und die Ortsgruppen gestärkt. Trotz Corona ist es auch gelungen, in Jugend- und Frauenarbeit neue Impulse zu setzen und politische Erfolge zu erzielen, sei es bei der Berufsbildung oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die interkulturelle Arbeit zeichnet uns genauso aus wie unser Engagement für Diversity und Inklusion. In unserer IG BCE finden nach wie vor alle Beschäftigten ein Zuhause und eine erfolgreiche Vertretung ihrer Interessen.

All das ist möglich, weil wir uns als IG BCE selbst kontinuierlich verändern und uns immer wieder auf neue Anforderungen einlassen – etwa mit dem 2010 gestarteten Zukunftsprozess 2020, der nun im Szenarienprozess und der Perspektive 2030 seine Fortsetzung findet. Unsere IG BCE ist heute kampagnenfähiger als vor vier Jahren, wir haben unsere Kommunikation auf die digitalen Medien und neue Zielgruppen ausgerichtet. Wir haben unseren Mitgliederservice verbessert und unsere Arbeitsformen erweitert, Beratung und Bildungsangebote in digitalen Formaten entwickelt.

Eine starke Gewerkschaft bleibt auch deshalb gefragt, weil wir ein Gegengewicht bilden zu demokratie- und menschenfeindlichen Kräften wie dem Rechtsextremismus, der in Deutschland und Europa zwar erstarkt ist, aber keineswegs so, wie vielfach befürchtet. Und es ist auch unser Erfolg, dass beispielsweise die verschiedenen AfD-Ableger in unseren Betrieben keinen Fuß fassen konnten.

Das soll so bleiben, dafür werden wir auch weiterhin mit ganzer Kraft arbeiten. Weil wir unseren Werten, unserem geschichtlichen Auftrag und unseren Mitgliedern verpflichtet sind.

Daraus schöpfen wir Motivation und Haltung: Mit.Mut.Machen!

Glückauf!

Michael Vassiliadis
Vorsitzender

Ralf Sikorski
Stellv. Vorsitzender

Karin Erhard

Francesco Grioli

Petra Reinbold-Knape


Titelfoto: Gemeinsam für eine sozial gerechte Transformation: Beschäftigte demonstrieren am Rande einer Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ 2018 in Berlin.

Foto: Andreas Franke