Schutz in der Krise

Industriekrise

Jobsorgen in Fulda: Die Reifenbranche hat massiv Stellen abgebaut.

Foto: Wolfgang Lenders

Zwischen Umbruch

und Aufbruch

Die Jahre 2021 bis 2024 waren geprägt von einer tiefgreifenden Industriekrise, die viele Branchen und Regionen hart traf. Die IGBCE stand an der Seite ihrer Mitglieder mit politischem Druck, tariflicher Gestaltungskraft und klaren Konzepten für die Transformation. Was erreicht wurde und wo es noch Lösungen braucht.

Es kam einiges zusammen: Geopolitische Konflikte, hohe Energiepreise, unsichere Transformationspfade, Corona-Folgen und eine schwache globale Nachfrage stürzten die deutsche Industrie in eine tiefe Krise. Besonders hart traf es die energieintensiven Branchen – zentrale Säulen des in­dus­tri­el­len Kerns in Deutschland. Die Produktion sank bis Ende 2024 auf rund 20 Prozent unter das Vorkrisenniveau. Die Folge: Werksschließungen, Verlagerungen, Abbau von Arbeitsplätzen.

Gerade die Branchen der IGBCE waren besonders betroffen. Die wirtschaftlichen Einschnitte hatten Auswirkungen auf Lieferketten, regionale Arbeitsmärkte und die Innovationskraft ganzer Industriezweige. Zusätzlich zur wirtschaftlichen Schieflage verunsicherte auch der zunehmende internationale Standortwettbewerb viele Unternehmen. Immer häufiger wurde diskutiert, ob Deutschland als Industriestandort langfristig konkurrenzfähig bleiben kann.

Breite Betroffenheit in allen Regionen

Kaum ein IGBCE-Bezirk blieb verschont. Während sich Einschnitte in großen Chemie-Standorten oft noch sozialverträglich abfedern ließen, waren andere Branchen wie Papier-, Keramik-, Kautschuk- und Kunststoffindustrie deutlich stärker betroffen. Ganze Standorte verschwanden, jahrzehntelange industrielle Präsenz ging verloren. Bezirke und Betriebsräte arbeiteten mit Hochdruck daran, tragfähige Lösungen für die Beschäftigten zu entwickeln. Dadurch konnten Sozialpläne, Interessenausgleiche und Qualifizierungsprojekte für zahlreiche Standorte durchgesetzt werden.

Die IGBCE fordert weiter echte Zukunftsperspektiven für strukturschwache Regionen und die langfristige Sicherung regionaler Wertschöpfungsketten um den Industriestandort Deutschland als Motor des Wohlstands zu erhalten. Denn auch Regionen, die bislang als industrielle Kernzonen galten, spüren inzwischen den Druck der strukturellen Veränderungen.

Statement nach dem Spitzengespräch mit Teilnehmern von VCI, IGBCE, BAVC und Unternehmen für den Chemiegipfel im Kanzleramt.

Foto: Simone M. Neumann

Transformation ja – aber mit Sicherheit für Betriebe und Beschäftigte.

Michael Vassiliadis

Verantwortung in Transformation

Trotz des massiven Drucks gelang es in vielen Fällen, die soziale Verantwortung zu wahren und Übergänge für die Beschäftigten zu gestalten. Doch klar ist: Die Krise reicht tief in die industrielle Wertschöpfungskette hinein.

Die IGBCE machte öffentlich und politisch deutlich, dass die Modernisierung der Industrie auf Platz eins der politischen Agenda gehören muss. Im März 2023 präsentierte sie ihr Positionspapier „Industriepolitik 2030+“ mit klaren Forderungen für eine aktive Industriepolitik. Beim Chemiegipfel im Kanzleramt im September desselben Jahres forderte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis konkrete Verbesserungen bei Energiepreisen, Infrastrukturinvestitionen und Planungsbeschleunigung.

Druck in den Branchen Beispiel Reifenindustrie

In der Reifenindustrie sorgten Verlagerungen und Werksschließungen für große Verunsicherung. Continental, Michelin, Goodyear: Die Liste der Umstrukturierungen ist lang. Die IGBCE begleitete die Entwicklungen mit Protesten, Gesprächen und aktiver Interessenvertretung vor Ort und auf Bundesebene. In Fulda etwa formierte sich breiter Protest gegen die Schließung des Goodyear-Werks, an einem Standort mit mehr als 100 Jahren Reifenproduktion. In Homburg und Karlsruhe unterstützte die Gewerkschaft die lokalen Betriebsräte beim Ringen um Alternativen zur Werksschließung. Denn Werksschließungen führen nicht nur zu Arbeitsplatzverlusten, sondern haben auch spürbare Auswirkungen auf Zulieferbetriebe, lokale Dienstleister und ganze Regionen.

Was diese Arbeit erreicht hat, sind eine sichtbare Mobilisierung und politische Gespräche für den Erhalt von Industriestandorten. Für verbindliche Zusagen für neue Investitionen in Deutschland muss weiter gewerkschaftlich gekämpft werden.

Die IGBCE ist Partnerin der Transformation aber auch Mahnerin gegen industriepolitisches Zögern.

Francesco Grioli

Foto: Kai-Uwe Knoth

Strategiedialoge zur Transformation

Auch in der Mineralölindustrie engagierte sich die IGBCE stark. Ihre Vorschläge flossen in das vom Bundeswirtschaftsministerium initiierte Papier für eine „Molekülwende“ ein – ein Schlüssel für kli­ma­neu­tra­le Raffinerien. Gemeinsam mit der Papierindustrie organisierte die IGBCE ein parlamentarisches Frühstück, um die Herausforderungen der Branche mit Bundestagsabgeordneten zu diskutieren. Die IGBCE machte sich dort auch für gezielte Unterstützung kleinerer Standorte stark, die ohne gezielte Förderung kaum die Anforderungen der Transformation bewältigen können. Gleichzeitig wurde in enger Abstimmung mit wissenschaftlichen Instituten an Modellen für eine sozialverträgliche Industriestrategie gearbeitet, die auch kleineren Unternehmen Perspektiven aufzeigen soll.

Die IGBCE ist Impulsgeberin für eine moderne Industriepolitik. 2024 kamen im Bildungszentrum Bad Münder Betriebsräte der Grundstoffchemie zu einem Strategiegipfel mit Staatssekretär Jörg Kukies zusammen. Im November folgten Gespräche mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Rahmen zweier Industriegipfel. Die IGBCE forderte unter anderem eine staatliche Deckelung der Netzentgelte, eine Ausweitung der Strompreiskompensation, eine CO₂-Speicherungsperspektive sowie die Umsetzung eines Kraftwerkssicherheitsgesetzes. Die Gespräche mit der Bundesregierung wurden von der IGBCE mit Positionspapieren und konkreten Vorschlägen zur Standortstärkung begleitet.

Seit 2023 richtet die IGBCE mit forschenden Pharmaunternehmen den Fortschrittsdialog aus. Ziel dieser Reihe ist es, den industriellen Fußabdruck sowie den Beitrag der Beschäftigten dieser Branche aufzuzeigen. Die IGBCE will den Innovations- und Produktionsstandort Deutschland in Europa sichern und weiter stärken, Beschäftigung erhalten und ausbauen und zugleich die medizinische Versorgung nachhaltig sicherstellen.

Einmal mehr auf dem Weg zu einem Krisengipfel im Kanzleramt: Michael Vassiliadis (Mitte), umgeben von CEOs aus der Chemie-Industrie.

Foto: Lars Ruzic

Perspektiven entwickeln

Die IGBCE stärkte auch den internen Dialog. Digitale Runden mit Betriebsräten, Industriegruppentagungen und Gespräche mit Verantwortlichen aus den Ministerien wurden zu festen Bestandteilen der Gewerkschaftsarbeit. Im Herbst 2024 diskutierten knapp neunzig Mitglieder der Industriegruppenausschüsse mit dem Bundeswirtschaftsministerium die konkrete Lage in ihren Betrieben. Die Praxisrückmeldungen aus den Regionen trugen dazu bei, industriepolitische Forderungen der IGBCE noch zielgenauer auszurichten. In mehreren Landesbezirken wurden zusätzlich Fachforen eingerichtet, um Wissen zu bündeln und zielgerichtete Initiativen für die betriebliche Praxis zu entwickeln.

Mit den „SustainIndustryLABs“ wurde eine eine Werkstattgesprächsreihe entwickelt, die Betriebsräte in der Krise begleitet. Es geht auch darum, in der Krise den gemeinsamen Austausch zu fördern, mit Expert*innen vertrauensvoll zu diskutieren und gewerkschaftliche Antworten für zukunftsfähige Standorte in Deutschland zu entwickeln. In den Werkstattgesprächen standen drei wesentliche Zukunftstrends im Mittelpunkt: die nachhaltige Industrie, die zirkuläre Chemie und der globale Handel mit Marktschutz.

Im Rahmen des „Bündnisses Zukunft der Industrie“ brachte sich die IGBCE aktiv ein. Bei Industriekonferenzen in Berlin und Brüssel standen Gespräche mit Wirtschaftsminister Robert Habeck ebenso auf dem Plan wie Konsultationen zur Kreislaufwirtschaft oder zur Industriepolitik. Auch bei branchenspezifischen Veranstaltungen war die IGBCE präsent: Die zuständigen Industriegruppensekretär*innen vertraten die Interessen der Beschäftigten in Terminen mit Ministerien, politischen Parteien, Verbänden und Unternehmen.

Tarifpolitik und Qualifizierung als Stabilitätsanker

Die IGBCE nutzte ihre tarifpolitische Gestaltungskraft, um Sicherheit in der Krise zu schaffen. In mehreren Branchen wurden tarifliche Regelungen zur Standortsicherung, zur Qualifizierung und zur Beschäftigungssicherung ausgeweitet. Gleichzeitig wurde die Nutzung von Instrumenten wie dem Qualifizierungschancengesetz verstärkt beworben. Die Gewerkschaft förderte zudem Pilotprojekte, in denen Beschäftigte für neue, nachhaltige Aufgabenbereiche qualifiziert wurden. Besondere Aufmerksamkeit galt auch der Weiterentwicklung von Tarifmodellen, die betriebliche Flexibilität mit Sicherheit für die Beschäftigten verbinden.

Die IGBCE macht klar: Transformation braucht Richtung, Beteiligung und soziale Sicherung. Beim zweiten Kanzler-Industriegipfel Ende 2024 forderte Michael Vassiliadis Sofortmaßnahmen für energieintensive Branchen. Er hatte schon Monate zuvor gemeinsam mit siebzig Konzernchefs die Antwerpener Erklärung für einen „Industrial Deal“ in Europa unterzeichnet. Die IGBCE fordert einen verbindlichen Transformationsrahmen, der Investitionen in nachhaltige Technologien, Planungssicherheit für Unternehmen und Schutz für die Industriebeschäftigten gleichermaßen bietet.