Schutz in der Krise

Rekordinflation

Foto: Andreas Reeg

Tarifpolitik gegen Rekordinflation

Kaufkraft sichern in der Krise

Zwischen 2021 und 2024 stiegen die Verbraucherpreise in Deutschland um mehr als 20 Prozent – die höchste Teuerungsrate seit Jahrzehnten. Besonders betroffen: die Beschäftigten in der Industrie. Die IGBCE reagierte schnell und entschlossen. Mit politischem Druck, starken Tarifabschlüssen und kreativen Lösungen gelang es, gezielte Entlastung zu schaffen.

Bis zum Jahr 2021 lag die jährliche Preissteigerungsrate viele Jahre unter zwei Prozent. Selbst in Phasen moderater Tariferhöhungen blieb somit am Ende real mehr Netto vom Brutto. Das änderte sich abrupt mit dem Beginn der Energiepreiskrise und dem Krieg in der Ukraine. Binnen kurzer Zeit explodierten Strom- und Gaspreise, was sich direkt auf nahezu alle Bereiche des Konsums und der Produktion auswirkte. Die Inflation erreichte in manchen Monaten zweistellige Raten. Gleichzeitig fiel Deutschland in eine wirtschaftliche Stagnation, die 2023 und 2024 in eine technische Rezession überging.

Diese Kombination aus galoppierender Teuerung und schrumpfender Wirtschaftsleistung ist historisch und forderte die Tarifpolitik heraus wie selten zuvor. Die IGBCE analysierte fortlaufend die reale Wirkung bestehender Tarifverträge auf das verfügbare Einkommen und machte frühzeitig klar: Ohne ergänzende Entlastungspakete droht ein flächendeckender Reallohnverlust. Besonders stark betroffen waren Branchen mit niedrigem Entgeltniveau dort war die Lücke zwischen Lebenshaltungskosten und Tariflohn besonders spürbar. Das Thema wurde auch in den Bezirken breit diskutiert mit enger Einbindung der Betriebsräte und Vertrauensleute.

Starkgemacht für Entlastung

Schnelle und wirksame Hilfe war nötig. Die IGBCE forderte daher ein tarifliches Instrument, das der Preisexplosion begegnen konnte. Gemeinsam mit anderen Gewerkschaften brachte sie die Bundesregierung dazu, im Rahmen der konzertierten Aktion ein Entlastungsgeld zu ermöglichen. Ab Oktober 2022 war es möglich, eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie von bis zu 3.000 Euro zu vereinbaren. Die IGBCE setzte sofort darauf, diese Regelung in ihre Tarifrunden zu integrieren und wurde erneut zur Taktgeberin in der Tarifpolitik. Die IGBCE brachte sich intensiv in Gespräche mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck ein. Dabei wurde deutlich gemacht, dass Tarifverträge eine hohe Reichweite brauchen steuerliche Entlastung hilft am meisten dort, wo flächendeckende Regelungen greifen. Mit ihrer frühzeitigen Positionierung beeinflusste die IGBCE maßgeblich die politische Debatte.

Nur starke Tarifverträge und handlungsfähige Gewerkschaften können in der Krise schützen das hat sich bewiesen.

Michael Vassiliadis

Inflationsausgleichsprämie in voller Höhe durchgesetzt: das Chemie-Verhandlungsteam um Ralf Sikorski (Mitte).

Foto: Andreas Reeg

Inflationsausgleich wird Gesetz

In der Chemie-Tarifrunde 2022 war die IGBCE die erste Gewerkschaft, die die vollen 3.000 Euro in zwei Teilen für die Jahre 2023 und 2024 tariflich absicherte. Gemeinsam mit dem bereits zuvor durchgesetzten Brückengeld von 1.400 Euro und einer Gesamttariferhöhung von über 14 Prozent entstand ein starkes Gesamtpaket. Damit konnte die IGBCE für Hunderttausende Mitglieder einen spürbaren Ausgleich der Teuerung schaffen. Schnell folgten weitere Branchen die Inflationsprämie wurde zum tariflichen Standard. Arbeitgeber stimmten zu, weil das Modell unbürokratisch war und steuerlich entlastend wirkte. Besonders hervorzuheben: Die Umsetzung der Prämie war nicht nur einfach sie wirkte auch sozial. Denn gerade Beschäftigte in mittleren und unteren Einkommensgruppen profitierten überdurchschnittlich stark. In internen Befragungen zeigte sich: Der Großteil der Mitglieder empfand die Zahlungen als spürbare Anerkennung ihrer Leistungen in Krisenzeiten.

Erfolge in der Fläche

Die Liste erfolgreicher Abschlüsse ist lang: In der feinkeramischen In­dus­trie erreichte die IGBCE Tariferhöhungen von bis zu 18,7 Prozent, ergänzt um eine Inflationsprämie von 2.000 Euro. In der Papierindustrie stiegen die Entgelte um 12,3 Prozent, dazu kamen 450 Euro Corona-Prämie und die vollen 3.000 Euro Inflationsausgleich. Beschäftigte in der Kautschukindustrie erhielten 15,5 Prozent tabellenwirksame Erhöhungen sowie die 3.000 Euro Prämie – und eine weitere Einmalzahlung von 26 Prozent eines Monatsentgelts. Im Tarifgebiet Glas Ost wurden tabellenwirksame Erhöhungen von bis zu 29,8 Prozent erreicht vor allem für die unteren Lohngruppen. Dazu kam eine Inflationsprämie von 2.500 Euro.

Selbst in Branchen im Wandel wie der Energieerzeugung konnten Erfolge erzielt werden: Bei der LEAG gab es nach Arbeitskämpfen 11,3 Prozent Erhöhung plus einen teilweise steuerfreien Mitgliederbonus von 6.000 Euro. Solche Abschlüsse zeigen: Die IGBCE konnte die tarifpolitischen Spielräume effektiv nutzen. Auch bei Shell oder im Bereich der Spezialchemie konnten branchenspezifische Lösungen gefunden werden. In vielen Haustarifverträgen griff die IGBCE ebenfalls zur Inflationsprämie häufig begleitet durch Verabredungen zur Beschäftigungssicherung und zur Qualifizierung. Damit wurde deutlich: Tarifpolitik kann auch unter Druck stabilisieren und Perspektiven schaffen.

Beschäftigte aus der Energiebranche demonstrieren in Berlin für spürbare Entgeltsteigerungen.

Foto: Merlin Nadj-Torma

920.000 Beschäftigte profitieren

In den Jahren 2022 bis 2024 wurden in 526 Tarifbereichen über 2,5 Milliarden Euro an Inflationsausgleichsprämien vereinbart. Davon profitierten rund 920.000 Beschäftigte und mehr als 95 Prozent aller tarifgebundenen Mitglieder der IGBCE. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) stellte fest: Die tarifliche Nettolohnsteigerung für 2024 betrug 3,1 Prozent der höchste Wert seit Jahrzehnten. Die IGBCE liegt mit ihren Branchen voll im Schnitt. Für viele Mitglieder war die steuerfreie Prämie der entscheidende Faktor, um kurzfristige Mehrbelastungen abzufedern. Die Vereinbarung war ein starkes Zeichen an die Beschäftigten: Ihre Interessen zählen.

Die Entlastung wurde von vielen Betriebsräten als starkes Zeichen gewertet auch gegenüber Belegschaften, in denen nicht alle Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind. Zugleich trugen die tariflichen Sonderzahlungen zur Stabilisierung der Binnennachfrage bei – sie stärkten nicht nur private Haushalte, sondern auch regionale Wirtschaftskreisläufe.

Zahl der Arbeitskämpfe nimmt zu

Die schwierigen Rahmenbedingungen, aber auch Arbeitgeber, die in der Sozialpartnerschaft keinen Wert für sich sehen, sorgten dafür, dass die Tarifrunden insgesamt konfliktreicher verliefen. Nach der Coronakrise stieg die Zahl der geplanten Arbeitskämpfe von rund zehn im Jahr 2022 über 20 (2023) und 24 (2024) auf 21 allein im ersten Halbjahr 2025 an. Seit Anfang 2023 wurden 205 konkrete Streikmaßnahmen geplant und 94 auch tatsächlich durchgeführt. Zur organisatorischen Begleitung wurden die Aufgaben der Bundestreikleitung erweitert und ein umfangreiches Informations- und Schulungsprogramm aufgebaut.

Ringen um Inflationsausgleich: Christian Lindner, Michael Vassiliadis, die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi und Hubertus Heil bei der Konzertierten Aktion im Kanzleramt.

Foto: picture alliance/dpa/AP-Pool | Michael Sohn

Klare Botschaft an die Papier-Arbeitgeber in Mannheim.

Foto: Bernhard Kreutzer

Trotz Erfolg: Die Krise ist nicht vorbei

Gerade in tariflich weniger gut organisierten Betrieben zeigten sich massive Unterschiede. Während in IGBCE-Branchen starke Abschlüsse durchgesetzt wurden, blieben viele andere Beschäftigte ohne Schutz. Auch die Sorge um gesellschaftliche Spaltung nahm zu, denn steigende Preise treffen nicht alle gleich: Beschäftigte in unteren Einkommensgruppen gaben laut Studien bis zu 70 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für lebensnotwendige Güter aus deutlich mehr als Haushalte mit höherem Einkommen.

Doch auch, wer die Inflationsausgleichsprämien und andere gewerkschaftliche Erfolge nutzen konnte: Die Prämien haben kurzfristig gewirktsind aber inzwischen verpufft. Selbst mit den zuletzt durchgesetzten tabellenwirksamen Erhöhungen liegen die Reallöhne vieler Branchen noch unter dem Niveau von 2021, in der Chemie beispielsweise auf dem Stand von 2015.

Aus der Krise lernen

Die Inflation hat einen Großteil der Tariferfolge der letzten Dekade aufgezehrt. Es bedarf weiterer intensiver Tarifarbeit, um diesen Rückstand aufzuholen. Die IGBCE bleibt entschlossen: In den nächsten Tarifrunden wird Kaufkraftsicherung wieder ein zentrales Thema sein mit nachhaltigen Lohnerhöhungen, smarten Differenzierungsregelungen und politischer Flankierung durch industriepolitische Reformen.

Dabei wird die Debatte um Reallohnverluste weitergehen. Denn die Inflationswelle hat strukturelle Fragen aufgeworfen: Wie kann die Tarifpolitik künftig noch schneller reagieren? Wie lassen sich Einmalzahlungen gezielter einsetzen und wie erreichen Gewerkschaften auch die Beschäftigten, die bislang nicht im Schutz von Tarifverträgen arbeiten? Die IGBCE wird die Erfahrung der vergangenen Jahre nutzen, um ihre Strategien weiterzuentwickeln mit klarer politischer Haltung, starker Organisation vor Ort und dem Willen zur Erneuerung.