
Foto: Anton M. De Angelis
Mitgliedschaft
sichtbar machen
Differenzierung als Antwort
auf sinkende Tarifbindung
Mitgliedschaft sichtbar machen
Differenzierung als Antwort auf sinkende Tarifbindung
Einige kämpfen – alle profitieren. Doch haben Gewerkschaften zu wenig Mitglieder, gerät das Prinzip kollektiver Solidarität unter Druck. Die IGBCE reagiert darauf mit einer strategischen Initiative: tarifliche Differenzierungsregelungen, die Mitgliedschaft konkret belohnen. Der Durchbruch gelang in der Chemie-Tarifrunde 2024 – ein Meilenstein für die gesamte Gewerkschaftsbewegung.
Nur noch knapp die Hälfte aller Beschäftigten arbeitet in tarifgebundenen Betrieben. Eine Ursache dafür ist auch der zurückgehende Organisationsgrad der Beschäftigten und damit die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften. Immer mehr Beschäftigte nutzen zwar die Vorteile von Tarifverträgen, wollen aber dafür nichts tun und unterstützen die Gewerkschaften nicht. Die wiederum haben es immer schwerer, neue Mitglieder zu gewinnen, wenn die Nichtmitglieder die gleichen Leistungen erhalten und dafür nicht einmal einen Beitrag zahlen. Um das zu ändern, kämpft die IGBCE für Differenzierungsregelungen in den Tarifverträgen.
Der Durchbruch in der Chemie-Tarifrunde 2024
Wie eindrucksvoll das gelingen kann, zeigte sich in der Tarifrunde 2024 der chemischen Industrie. Nach der Tarifrunde 2022 hatte sich die IGBCE mit den Arbeitgebern darauf verständigt, bis zur nächsten Tarifrunde Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, wie die Tarifbindung gemeinsam gestärkt werden kann. Unterschiedliche Gesprächsformate wurden dazu gewählt: Gespräche in der kleinen Verhandlungskommission, die auch regelmäßig zwischen den Tarifrunden tagte. Eine technische Kommission wurde eingesetzt und es wurden auf regionaler Ebene Sozialpartner-Veranstaltungen durchgeführt, auf denen mit durchaus guten Ergebnissen über die Stärkung der Tarifbindung gesprochen wurde. Zudem sprach die IGBCE-Seite sehr offen und untermauert durch Zahlen über die Folgen des anhaltenden, vor allem demografiebedingten Mitgliederschwundes. Der Tenor: In den kommenden zehn Jahren wird sich entscheiden, ob dem Arbeitgeberverband ein starker, eigenständiger und handlungsfähiger Partner erhalten bleibt. Wird das auch vom Arbeitgeberverband gewünscht, müssen stabilisierende Maßnahmen ergriffen werden.
Ohne Bonus gehen wir hier nicht vom Tisch, ohne Bonus wird es keinen Tarifabschluss geben!
Oliver Heinrich

Foto: Paul Zinken
Ein beispielloser Weg zur Differenzierung
Die IGBCE hatte in der Tarifrunde 2024 einen Mitgliedervorteil zwar nicht zur Hauptforderung gemacht – diese war eine deutliche Entgeltsteigerung. Die Gewerkschaft hatte einen erfolgreichen Tarifabschluss dennoch an das Zustandekommen eines Extras für die Mitglieder gebunden. Die IGBCE ging dabei ein spürbares Risiko ein. Obwohl es eine gute sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit gab und beide Seiten vereinbart hatten, gemeinsam nach Wegen zur Stärkung der Tarifbindung zu suchen, war keineswegs sicher, dass es tatsächlich zu einer tariflichen Vorteilsregelung kommen würde. Die Arbeitgeberseite hatte solche Regelungen über Jahre hinweg strikt abgelehnt. Sogar der Gesamtmetallverband mischte sich ein und warnte die Chemiearbeitgeber davor, einer solchen Lösung zuzustimmen.
Mit der Kündigung der Schlichtungsregelung und dem Ausbau der Streikfähigkeit zeigte die IGBCE sehr deutlich, was die Alternative zum bisherigen Weg der Sozialpartnerschaft bedeutet. „Ohne Bonus gehen wir hier nicht vom Tisch, ohne Bonus wird es keinen Tarifabschluss geben!“, brachte es Verhandlungsführer Oliver Heinrich auf den Punkt.

Mit Geschlossenheit Geschichte geschrieben: die Bundestarifkommission Chemie nach dem Bonus-Abschluss.
Foto: Andreas Reeg
Mediale Wirkung und gewerkschaftlicher Meilenstein
Der Tarifabschluss 2024 für die chemische Industrie sorgte daher für große mediale Aufmerksamkeit. Die „Bild“-Zeitung machte eine „Job-Revolution“ in der Tarifpolitik aus und hörte sich auch gleich um, ob andere Gewerkschaften dem nacheifern wollten. Das Ergebnis ihrer Blitzumfrage: Ein „Tarif-Hammer um Sonder-Urlaub“, „andere Gewerkschaften pochen jetzt auch auf Extras“.
Erstmals in der deutschen Tarifgeschichte gelang es, für ein großes Flächentarifgebiet eine tarifliche Vorteilsregelung für Mitglieder durchzusetzen. IGBCE-Mitglieder erhalten einen zusätzlichen freien Tag pro Jahr sowie in Jubiläumsjahren ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft einen weiteren freien Tag. Diese freien Tage sind ein Ausgleich für das finanzielle und zeitliche Engagement unserer Mitglieder. Zur Überraschung vieler kündigte der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) zudem vor laufender Kamera an, diese Regelung nicht nur zu akzeptieren, sondern die vereinbarten Vorteile ausschließlich Mitgliedern der IGBCE zukommen zu lassen. Die ersten Monate nach Einführung zeigten, dass die Arbeitgeber sich mit großer Mehrheit an die Verabredungen hielten und den Bonus so wie vereinbart auch umsetzten.
„Job-Revolution“: Der freie Tag für IGBCE-Mitglieder traf auf große Resonanz in den Massenmedien.
Ein starkes Zeichen der Anerkennung
„Noch nie zuvor ist es einer Gewerkschaft in Deutschland gelungen, in einem so großen Flächentarifvertrag einen Mitgliedervorteil zu verhandeln! Damit haben wir einen Standard gesetzt, hinter den wir nicht mehr zurückgehen. Damit schlagen wir ein neues Kapitel in der Tarifpolitik auf“, konstatierte IGBCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich. Der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis machte mit Blick auf die Arbeitgeber deutlich: „Damit senden sie ein klares Zeichen der Wertschätzung an diejenigen Beschäftigten, die mit ihrem gewerkschaftlichen Engagement Tarifverträge erst möglich machen.“
Die Anzahl der Tarifverträge, die eine Differenzierungsregelung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern vorsehen, hat im Berichtszeitraum stark zugenommen. Zurzeit gibt es rund 180 Tarifbereiche mit mehr als 300 Tarifverträgen (Stand Februar 2025) mit Mitgliedervorteilen. Davon profitieren rund drei Viertel der betriebstätigen IGBCE-Mitglieder. Nicht zuletzt durch den Chemie-Abschluss hat das Thema enorm Fahrt aufgenommen. Keine andere Gewerkschaft hat so viele Bonusregelungen wie die IGBCE.
Und der Bonus wirkt. Mehr Eintritte und gleichzeitig weniger Kündigungen sind die Effekte einer Differenzierungsregelung. Den größten Schub gab es durch den Tarifabschluss 2024 in der chemischen Industrie mit dem Gewerkschaftstag. Allein im dritten Quartal 2024 gab es circa 4.500 mehr Neueintritte als sonst in dem Zeitraum.
Die Bonusregelung setzt sich durch
Um den jeweiligen Bonus zu bekommen, muss sich das Mitglied gegenüber dem Arbeitgeber zur IGBCE bekennen. Um den administrativen Aufwand möglichst gering zu halten und die Anforderungen der DSGVO zu berücksichtigen, werden mittlerweile die meisten Bonusregelungen über eine individuelle Bonusbescheinigung, die im Mitgliederbereich der IGBCE-Website und in der IGBCE-App heruntergeladen werden kann, abgewickelt.