Unermüdlicher Kampf
gegen die Erosion der
Mitbestimmung
Unermüdlicher Kampf gegen die Erosion der Mitbestimmung
Der Aufsichtsrat ist das wichtigste Gremium für strategische Entscheidungen im Betrieb. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter der IGBCE bringen sich hier tagtäglich zum Wohl der Betriebe und der Beschäftigten ein. Denn eines ist nachgewiesen: Von der Mitbestimmung profitieren beide Seiten.
Die Demokratie im Betrieb über die Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen im Aufsichtsrat zu stärken, ist ein Markenzeichen des deutschen Wirtschaftsmodells. Es wird in den deutschen Mitbestimmungsgesetzen abgebildet. Doch die Zahl der Unternehmen, die diese Mitbestimmung umgehen oder bewusst vermeiden, nimmt nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) stetig zu. So hat eine Auswertung ergeben, dass im Jahr 2002 noch 767 Unternehmen in Deutschland eine paritätische Mitbestimmung in ihren Aufsichtsräten hatten. 2022 waren es nur noch 656. Der Anteil der Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten, die einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat haben, sank von 67,5 Prozent im Jahr 2019 auf 60,5 Prozent im Jahr 2022.
Die IGBCE hat zusammen mit den anderen Einzelgewerkschaften des DGB dafür gesorgt, dass die Forderungen zur Schließung der Lücken im Bereich der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), im Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) und im Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) im Koalitionsvertrag der alten Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz endlich Gehör fanden. Folgender Passus fand dort Eingang: „Deutschland nimmt bei der Unternehmensmitbestimmung eine weltweit bedeutende Stellung ein. Die bestehenden nationalen Regelungen werden wir bewahren. Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern.“
Allerdings wurde dieses Gesetzesvorhaben durch den vorzeitigen Bruch der Ampelkoalition und die vorgezogenen Neuwahlen nicht mehr umgesetzt. In den neuen Koalitionsvertrag von CDU und SPD fanden die bestehenden Pläne der SPD, Lücken bei der Unternehmensmitbestimmung zu schließen, keinen Eingang.
Gleichzeitig hat die IGBCE zusammen mit dem DGB und der Hans-Böckler-Stiftung das Verfahren der Gewerkschaften IG Metall und ver.di gegen SAP vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Bundesarbeitsgericht (BAG) unterstützt und dazu beigetragen, dass ein positives Urteil erzielt werden konnte. Die Gerichte haben die Mitbestimmung gestärkt: 21 Jahre nach Inkrafttreten der Gesetze auf europäischer Ebene im Jahr 2001 wurde zum ersten Mal eine Rechtsfrage zum Thema Europäische Aktiengesellschaft (SE) entschieden: Auch wenn deutsche Unternehmen ihre Rechtsform in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) wechseln, ist für die Beteiligung der Gewerkschaftsvertreter*innen im Aufsichtsrat weiterhin nationales Recht entscheidend.
Ein mitbestimmter Aufsichtsrat zwingt Unternehmen, Verantwortung nicht nur gegenüber Kapitalgebern, sondern auch gegenüber Mitarbeiter*innen, Regionen und der Gesellschaft insgesamt wahrzunehmen.
Birgit Biermann

Foto: Stefan Koch
Rückschlag vor dem Europäischen Gerichtshof
Nach diesem erfolgreichen Verfahren im Jahr 2022 folgte 2024 jedoch ein Rückschlag, der weitere Möglichkeiten zur Vermeidung der Beteiligung von Beschäftigten im Aufsichtsrat für die Unternehmen eröffnet. Der EuGH hatte im „Olympus-Verfahren“ erneut Rechtsfragen im Bereich der SE-Gründung vom BAG vorgelegt bekommen. Bei der Gründung einer SE ist zunächst ein Beteiligungsverfahren für die Beschäftigten vorgesehen, in dem die Beteiligungsrechte in der betrieblichen Mitbestimmung und der Unternehmensmitbestimmung ausgehandelt werden sollen. Allerdings ist Beteiligung nur sinnvoll, wenn auch tatsächlich Beschäftigte diesen Gesellschaften zugeordnet sind. Häufig werden die SE aber gegründet und zunächst als arbeitnehmer*innenlose Gesellschaft in die Gesellschaftsstruktur der Unternehmen integriert. Erst zu einem späteren Zeitpunkt werden sie der Unternehmensspitze zugeordnet und erst dann werden die Beschäftigten zugerechnet.
Entgegen der bisherigen Rechtsprechung in Deutschland muss nach der Wertung des EuGH und im Anschluss des BAG zu diesem Zeitpunkt kein Beteiligungsverfahren der Beschäftigten nachgeholt werden. Somit ist die als Schutzgesetz für Arbeitnehmer*innerechte vorgesehene SE-Richtlinie ausgehebelt und mithilfe dieses gesellschaftsrechtlichen Kniffs sämtlicher Schutz obsolet. Die IGBCE setzt sich deshalb zusammen mit dem DGB und der HBS dafür ein, dass auf europäischer und nationaler Ebene die weitere Erosion der Unternehmensmitbestimmung über europäische Gesellschaften, Auslandsbeteiligungen sowie das löchrige Drittelbeteiligungsgesetz endlich gestoppt wird.
Fortwährend arbeitet die IGBCE an der Verbesserung der Abläufe von Aufsichtsratswahlen. So wurden für Hauptamtliche und Ehrenamtliche Muster für die Aufsichtsratswahlwerbung erstellt und Coachings für Kandidat*innen einer Aufsichtsratswahl angeboten, um die Wahlwerbung bei Aufsichtsratswahlen zu standardisieren und zu vereinfachen. Im Bereich der Qualifizierung geht die IGBCE neue Wege und organisiert Webseminare nach den zeitlichen und inhaltlichen Bedürfnissen der Aufsichtsratsmitglieder. Auch das Onboarding von neuen Aufsichtsratsmitgliedern wurde überarbeitet und stetig verbessert.
Mitbestimmung als Erfolgsfaktor für Nachhaltigkeit
Erfolgreiche Mitbestimmung im Aufsichtsrat war schon immer – anders als manche kurzatmige Entscheidung des Managements – auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet. Chemie³, die Nachhaltigkeitsinitiative von IGBCE, Chemiearbeitgebern und VCI, hat 2023 den Chemie³-Branchenstandard für nachhaltige Wertschöpfung erarbeitet und veröffentlicht: Damit stehen gewerkschaftlichen Aufsichtsratsmitgliedern konkrete Leitlinien und Werkzeuge zur Verfügung, um Nachhaltigkeitsthemen in den höchsten Entscheidungsebenen der Unternehmen zu verstehen und letztlich zu verankern.