Gefordert durch Corona, Krieg und Krise
Betriebsräte und Vertrauensleute stark für die Zukunft

Raum zum Austausch: Vertrauensleute-Vorsitzenden-Konferenz 2024 in Bad Münder
Foto: André Staffa
Die ausklingende Coronakrise und der Ukraine-Krieg haben sich massiv auf die betriebliche Mitbestimmung ausgewirkt. So wurden zum Beispiel der Kampf für Beschäftigung und Investitionen oder das Thema mobiles Arbeiten zu Schwerpunkten der Betriebsrats- und Vertrauensleutearbeit.
Der Beginn der Coronakrise 2020 und der russische Überfall auf die Ukraine 2022 waren Ereignisse, die das Leben der Menschen in Deutschland, Europa und der Welt bis heute beeinflussen und dabei auch neue betriebspolitische Herausforderungen mit sich gebracht haben. Pandemie und Krieg, beides hat sich deutlich auf unsere Betriebe ausgewirkt. Corona hat insbesondere das Thema mobiles Arbeiten in fast jedem Betrieb in den Fokus gerückt und die Betriebsräte stark gefordert. Betriebsvereinbarungen mussten kurzfristig gestaltet, in der Praxis erprobt und nachgebessert werden. Dabei galt es, die unterschiedlichen Perspektiven und Möglichkeiten der jeweiligen Beschäftigtengruppen zu erkennen und zu beachten. Das mobile Arbeiten mit digitalen Konferenzen und wenig direktem zwischenmenschlichen Kontakt hat zudem das Wirken der Betriebsräte in den Unternehmen nachhaltig beeinflusst und verändert.
Mitbestimmung und innerbetriebliche Demokratie wurden durch Corona vor neue Herausforderungen gestellt, denn im Homeoffice sind die Beschäftigten für Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften nur indirekt zu erreichen – zumal viele Unternehmen den digitalen Zugang immer noch versperren. Die Forderung und die Umsetzung eines digitalen Zugangsrechts rückten damit als neuer Schwerpunkt auf die betriebspolitische Agenda. Die IGBCE kämpft sowohl auf juristischer als auch auf tariflicher Ebene dafür, diese Zugangsrechte durchzusetzen, etwa den Zugriff auf betriebliche E-Mail-Adressen, das Unternehmensnetzwerk oder die Verlinkung der IGBCE im betrieblichen Intranet. Das ist wichtig, um auch mit Beschäftigten im Home-office kommunizieren und sie über die Arbeit ihrer Interessenvertretung informieren zu können.
Das mobile Arbeiten hat das Wirken der Betriebsräte in den Unternehmen beeinflusst und verändert. Wir wollen mit unseren Vereinbarungen zum digitalen Zugangsrecht wieder vor die Welle der Veränderungen kommen.
Francesco Grioli
Erste Sozialpartnervereinbarung zum digitalen Zugang
Erste Erfolge konnten wir in dieser Sache bereits einfahren: Im Mai 2021 ist es der IGBCE gelungen, mit dem Arbeitgeberverband der Deutschen Kautschukindustrie (ADK) deutschlandweit die erste Sozialpartnervereinbarung zum digitalen Zugang zu vereinbaren. Sie gilt für die bundesweit 30.000 Beschäftigten in 100 Kautschukbetrieben. Laut der Vereinbarung soll der IGBCE in den Betrieben der Branche ein digitales Zugangsrecht ermöglicht werden. Dafür genutzt werden sollen die aktuell eingerichteten und bestehenden Kommunikationswege, also zum Beispiel die dienstlichen E-Mail-Adressen. Ergänzt werden können diese durch weitere betriebliche Informationssysteme, zum Beispiel das digitale Schwarze Brett im betrieblichen Intranet oder Mailinglisten. Möglich ist es auch, betrieblich eingerichtete Videokonferenzsysteme für gewerkschaftliche digitale Zusammenkünfte wie etwa eine Onlinesprechstunde oder Online-Vertrauensleutesitzungen zu nutzen.
Im August 2022 unterzeichnete auch der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) eine Sozialpartnervereinbarung zum digitalen Zugangsrecht. In den Betrieben der chemisch-pharmazeutischen Industrie soll der IGBCE neben dem analogen auch ein digitaler Zugang entsprechend der üblichen betrieblichen Kommunikation eingeräumt werden. Dieser Rahmen gilt für die rund 580.000 Beschäftigten der Branche und ist damit die bundesweit größte Branchenvereinbarung. Als erstes großes Unternehmen öffnete Evonik der IGBCE seine digitalen internen Kommunikationswege.

Vereinbarung unterzeichnet: Evonik hat als erstes Unternehmen die geschlossene Sozialpartnervereinbarung zum digitalen Zugangsrecht umgesetzt.
Foto: Helge Krückenberg
Demokratie und Vielfalt im Betrieb stärken
Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine haben insbesondere mit Blick auf die Versorgungssicherheit und die Energiepreise neue Standortfragen aufgeworfen.
Themen wie aufgeschobene oder gestoppte Investitionsentscheidungen haben die Notwendigkeit langfristiger Beschäftigungssicherung wieder auf die Agenda in den Betrieben gebracht. Entsprechend war der Kampf für Beschäftigung und Investitionen in den letzten Jahren eine zentrale Aufgabe von Betriebsrät*innen und Vertrauensleuten.
Der Einfluss von KI und Digitalisierung im Betrieb gewinnt weiter an Bedeutung. Für unsere Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, sehen wir eine Reihe von Chancen. Neue Produktdesigns, effizientere Forschung und Entwicklung, zum Beispiel im Bereich der Wirkstoffe in der Pharmaindustrie, stellen entscheidende Weichen in der Wettbewerbsfähigkeit. Die Betriebsräte und die IGBCE begleiten diese Entwicklung auch mit dem Blick auf Schutz und Sicherheit für die Beschäftigten.
Betriebliche Lösungen und gute Vereinbarungen sind dort am besten gelungen, wo organisierte Betriebsräte mit einem starken gewerkschaftlichen Selbstverständnis agiert haben. Veranstaltungen und Konferenzen haben bei der Vernetzung und bei der Positionierung geholfen. Regelmäßige Austauschorte bieten den Gremienmitgliedern betriebspolitische Orientierung. Dazu gehörten im Berichtszeitraum beispielhaft folgende Veranstaltungen: die jährliche Betriebsräte-Jahrestagung, die regelmäßige Vertrauensleutevorsitzenden-Konferenz, die jährliche Mitbestimmungstagung in Brüssel für Europäische Betriebsräte (EBR) in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung oder der jährliche KAAT-Dialog für Kaufleute, Akademiker*innen und AT-Beschäftigte.

Erfolgreiche Betriebsratswahlen
Die IGBCE hat bei den Betriebsratswahlen 2022 ihren Einfluss gestärkt. Mehr als 20.000 neu gewählte Betriebsrät*innen setzen sich in den IGBCE-Branchen für die Interessen der Beschäftigten ein. Fast drei Viertel (73 Prozent) von ihnen sind IGBCE-Mitglieder. Bei den Betriebsratsvorsitzenden sind es 86 Prozent. Vorstandsmitglied Francesco Grioli betont: „Das beweist einmal mehr, wie stark die IGBCE in den Betriebsratsgremien verankert ist.“
Einige Ergebnisse im Überblick:
- Organisationsgrad: mit 73 Prozent höher als vor Beginn des Wahlzeitraums
- Wahlbeteiligung: 62 Prozent, aufgrund von Corona und Homeoffice deutlich niedriger als 2018
- Frauen in den Gremien: Anteil leicht erhöht bei circa 29 Prozent; Organisationsgrad stabil bei circa 70 Prozent
- Betriebsrät*innen unter 35 Jahre: Anteil erhöht, Organisationsgrad bei circa 90 Prozent
- Erstmals gewählte Betriebsrät*innen: Organisationsgrad unterdurchschnittlich bei 62 Prozent
- Freigestellte Betriebsrät*innen: Organisationsgrad bei circa 92 Prozent
- Vorsitzende: Organisationsgrad gestiegen auf circa 86 Prozent, über 20 Prozent sind weiblich.
Die Wahlbeteiligung und der Organisationsgrad von erstmals gewählten Betriebsratsmitgliedern bleibt eine große, gemeinsame organisationspolitische Herausforderung.
Mehr Vertrauensleute mit mehr Möglichkeiten
Die zurückliegenden Vertrauensleutewahlen 2024 waren ebenfalls erfolgreich für die IGBCE, die Zahl der Vertrauensleute stieg an. Darüber hinaus konnten mit dem „Kursbuch Vertrauensleute“ und dem „Selbstverständnis für VL-Arbeit“ zwei grundlegende betriebspolitische Impulse für eine aktive VL-Arbeit geschaffen werden. Darüber hinaus konnten weitere betriebliche Regelungen vereinbart werden, die Freistellungansprüche für Vertrauensleutearbeit sichern. Die betriebspolitische Devise der IGBCE lautet: Wer noch keinen Vertrauensleutekörper hat, gründet einen. Wer Vertrauensleute hat, bindet sie ein und gibt ihnen Raum und Themen im Betrieb. Wer Vertrauensperson ist, bringt sich betriebspolitisch voll ein.
Foto: Christian Burkert
Betriebliche Lösungen und gute Vereinbarungen sind dort am besten gelungen, wo organisierte Betriebsräte und Vertrauensleute mit einem starken gewerkschaftlichen Selbstverständnis agiert haben.
Francesco Grioli
Über 200 Tarifverträge neu gefasst oder überarbeitet
Die seit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) 2001 geschaffene Möglichkeit, durch Tarifverträge die Betriebsratsstrukturen abweichend vom BetrVG zu regeln, wurde in Organisationsbereich der IGBCE im Berichtszeitraum wieder intensiv genutzt. Mehr als 200 Tarifverträge wurden neu gefasst oder überarbeitet. Das betrifft kleine Betriebsstrukturen ebenso wie große Konzernverbünde. Beispielhaft sind hier zu nennen Evonik, Essity und Fresenius Medical Care. In den meisten Tarifverträgen geht es um die Sicherung handlungsfähiger Konzern- und Betriebsratseinheiten, die Vermeidung von betriebsratslosen Betrieben und die Schaffung effizienter Vertretungsstrukturen.
Die Unternehmens- und Konzernbetreuung auf nationaler (GBR/KBR) und internationaler (EBR/SE-BR) Ebene durch die IGBCE hat ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Hierbei spielt die stärkere Vernetzung der hauptamtlichen Betreuer*innen eine wichtige Rolle. Jährlich stattfindende Tagungen bilden einen Austauschrahmen und schaffen einen einheitlichen Informationsstand. Zukünftig wird es hier eine weitere Professionalisierung der Angebote geben, damit die Betreuung durch die IGBCE effizienter und verzahnter erfolgen kann.
Zusammen mit Expert*innen aus dem Kreis der DGB-Gewerkschaften und der Hans-Böckler-Stiftung hat die IGBCE einen umfassenden Reformentwurf für das Betriebsverfassungsgesetz erarbeitet und in die politische Diskussion eingebracht. 2023 hat eine BGH-Entscheidung den Umgang mit dem Thema Betriebsratsvergütung für zahlreiche Betriebsratsmitglieder erheblich erschwert. Die IGBCE hat mit dem DGB das darauffolgende Gesetzgebungsverfahren eng begleitet und im Nachgang auch die aus der BGH-Rechtsprechung folgenden Urteile in Fachzeitschriften kommentiert, um die leichten Verbesserungen für Betriebsratsmitglieder in den Betrieben zu nutzen und weitere Verschlechterungen für die Vergütungsperspektive von Betriebsratsmitgliedern zu verhindern. Muster für bessere Regelungen in den Betrieben sind entwickelt worden, um zu einer rechtssicheren Regelung zu gelangen.
Stärkung von Schutz und Respekt im Betrieb
Ein wichtiger Meilenstein war das Inkrafttreten des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes im Juni 2021. Es erleichtert die Gründung von Betriebsräten und stärkt den Schutz der hieran beteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die IGBCE hat sich gemeinsam mit dem DGB intensiv in die Beratungen eingebracht. Zentral ist der bessere Kündigungsschutz für Beschäftigte, die sich für eine Betriebsratsgründung einsetzen. Die Neuregelung schützt vor Willkür und Einschüchterung. Für die IGBCE ist das ein wichtiger Schritt, um Schutz und Respekt im Betrieb zu stärken und denjenigen zu helfen, die ihre demokratischen Rechte einfordern. Es stärkt zudem die wichtige Rolle, die Betriebsräte täglich bei der Gestaltung guter Arbeitsbedingungen spielen.