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Bollwerk für Beschäftigte gebaut
Gasversorgung und Gaspreise waren zentrale Herausforderungen des Krisenmanagements nach Beginn des Ukraine-Kriegs. Die IGBCE leistete entscheidende Beiträge, um die Folgen für Menschen und Betriebe in Grenzen zu halten.
Der russische Angriff auf die Ukraine löste in der EU neben großer Hilfsbereitschaft für die Geflüchteten umgehend wirtschaftliche Gegenmaßnahmen aus. Diverse Sanktionspakete wurden auf den Weg gebracht. Schnell kam die Diskussion auf die zentralen russischen Exportprodukte zu sprechen: Öl und Gas. Die Debatte machte deutlich, wie sehr sich Deutschland in der Vergangenheit von russischen Importen abhängig gemacht hatte – vor allem auch durch Pipelines wie Druschba (Öl) oder Nord Stream (Gas), zu denen schnell keine Alternativen gefunden werden konnten.
Besonders dramatisch war die Abhängigkeit beim Erdgas, von dem Deutschland zu Kriegsbeginn 55 Prozent aus Russland bezog. Gas ist ein zentrales Vorprodukt nahezu aller IGBCE-Industrien. Es wird benötigt als Rohstoff zur Weiterverarbeitung in der Chemie, zum Verfeuern in Großöfen oder zur Herstellung von Prozessdampf. Gleichzeitig ist es ein zentrales Element der Energiewende, soll Kohlekraftwerke als Back-up-Kapazitäten ersetzen.
IGBCE setzt sich für Realismus und Pragmatismus ein
Die IGBCE setzte sich in der aufkeimenden Diskussion um ein Sofortembargo bei Öl und Gas deshalb früh für Realismus und Pragmatismus ein, um die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden. „Wir müssen auf Sicht fahren und alles am Netz halten, was wir noch haben“, forderte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis schon im März 2022. Wie dramatisch die Folgen sofort gekappter Gaslieferungen wären, machte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am Beispiel des weltgrößten Chemiewerks in Ludwigshafen deutlich. Wäre dort die Gasversorgung auf 50 Prozent des Üblichen gesunken, hätte der gesamte Standort heruntergefahren werden müssen – mit Folgen nicht nur für die mehr als 30.000 Beschäftigten, sondern für die gesamte industrielle Prozesskette und die Versorgung der Bevölkerung. Das trug dazu bei, die Diskussion schnell zu beenden.

Von einem Tag auf den anderen in Unsicherheit: PCK-Beschäftigte in Schwedt.
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Zum Symbol in der Debatte um russisches Öl wurde die Raffinerie PCK in Schwedt an der polnischen Grenze, die nicht nur direkt an der Druschba-Pipeline hing, sondern mit Rosneft auch einen russischen Mitgesellschafter hatte. An PCK hingen nicht durch direkt 1.200 Arbeitsplätze, sondern auch die Benzin- und Kerosinversorgung halb Ostdeutschlands. Die IGBCE wurde Teil einer Taskforce, die die Zukunft von PCK sichern sollte. Das Konzept stand schließlich im September 2022: Rosneft Deutschland wurde unter Treuhandverwaltung der Bundesnetzagentur gestellt, betriebsbedingte Kündigungen wurden vorerst ausgeschlossen und neue Beschaffungswege über die Häfen in Rostock und Danzig erschlossen. Gleichzeitig entwickelte PCK ein Langfrist-Konzept zur Umstellung auf grünen Wasserstoff bis 2045. So war man gewappnet, als zum Jahreswechsel 2022/2023 das Öl-Embargo der EU in Kraft trat.
Beim Erdgas spitzte sich die Lage dagegen bereits im Sommer 2022 zu. Russland schickte immer weniger Gas durch die Pipelines – mit vorgeschobenen Argumenten. Schließlich kam die Versorgung ganz zum Erliegen, um am 26. September 2022 explodierten die Nord-Stream-Pipelines. Schon über die Sommermonate hatten die Gaspreise bislang ungekannte Höhen erklommen, was massive Auswirkungen für Industrie sowie Verbraucher*innen hatte.
Die Unternehmen der energieintensiven Branchen reagierten mit zusätzlichen Effizienzanstrengungen und großer Flexibilität beim Brennstoffeinsatz. Sie drosselten gleichzeitig die Produktion signifikant, was auch Kurzarbeit für die Beschäftigten zur Folge hatte. Die IGBCE unterstützte auf allen Organisationsebenen die Kolleg*innen sowie die Unternehmen, konkret mit Beratung und Hilfestellung vor Ort, tariflich und politisch in den Ländern, in Berlin und in Brüssel. Die Produktion in den Branchen der IGBCE lag im gewichteten Durchschnitt am Ende des Jahres 2022 rund 15 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Zwar musste auch das gesamte verarbeitende Gewerbe Rückgänge verkraften, die wegen der geringen Energieabhängigkeit jedoch deutlich kleiner ausfielen.

Die Gasversorgung musste radikal umgestellt werden – mit gewaltigen Folgen bis heute.
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Der Preisschock brachte Deutschlands größten Gasimporteur Uniper im Sommer 2022 an den Rand des Abgrunds. Die IGBCE machte sich schnell für einen Einstieg des Staates bei dem Energiekonzern stark. Seine Rettung war zentral für die Gasversorgung des Landes, beliefert Uniper doch nicht nur Industriekunden, sondern auch nahezu alle Stadtwerke der Republik. „In dieser Krise muss der Staat alles tun, um einen Kollaps des Systems zu verhindern“, machte der IGBCE-Vorsitzende Vassiliadis seinerzeit deutlich. Die Verstaatlichung wurde schließlich im September 2022 eingeleitet und im Dezember abgeschlossen.
Gaspreise steigen in unerschwingliche Höhen
Gleichwohl blieb die Gas-Mangellage eine reale Gefahr und die Preise dramatisch hoch. Die Bundesregierung hatte zwar den Bau von LNG-Terminals angestoßen, die „in neuer Deutschland-Geschwindigkeit“ Ende 2022/Anfang 2023 ans Netz gingen. Doch es zeichnete sich ab, dass dies allein nicht genügen würde, um den Markt wieder zu beruhigen. Diskussionen um die prioritäre Versorgung mit Gas in der Industrie machten die Runde, während die Menschen sich um drastische Nachzahlungen bei ihren Gasrechnungen sorgten. Die IGBCE-Mitglieder sahen sich gleich doppelt betroffen: „Unsere Leute spüren die Energiekrise ja nicht nur privat. Die hohen Preise und die Gasknappheit treffen viele Betriebe in den energieintensiven Branchen mit voller Wucht“, machte Vassiliadis seinerzeit deutlich. „Da geht es auch um ihre Jobsicherheit.“

Der Bundeskanzler wirbt beim Festakt zu 25 Jahren IGBCE im Herbst 2022 für tatkräftige Unterstützung.
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Deutschland braucht diese IGBCE.
Olaf Scholz
IGBCE organisiert Entlastung
Genau in diese Zeit maximaler Unsicherheit fiel der Festakt zum 25-jährigen Bestehen der IGBCE. Am 23. September 2022 in Hannover nutzte Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Auftritt, um klarzumachen: „Wir werden durch diesen Winter kommen.“ Gleichwohl sei nun die zentrale Aufgabe, dass die Gaspreise in Deutschland wieder sinken. Am selben Tag hatte die Bundesregierung dazu die „Expert*innenkommission Gas und Wärme“ eingesetzt – mit Michael Vassiliadis als einem der drei Vorsitzenden. Sie sollte innerhalb weniger Wochen Vorschläge für eine Gaspreisbremse zur Entlastung von Verbraucher*innen und Unternehmen und zur Sicherung der Energieversorgung entwickeln. Mit komplizierten Herausforderungen kenne sich die IGBCE ja aus wie nur wenige, sagte der Bundeskanzler in seiner Rede beim Festakt. „Deutschland braucht diese IGBCE.“
Die 21-köpfige Kommission legte am 10. Oktober 2022 einen Zwischenbericht vor, der vorsah, Gas- und Fernwärmekund*innen in zwei Schritten zu entlasten. Demnach sollte der Staat als Soforthilfe die Abschläge im Dezember komplett übernehmen. Die Gaspreisbremse sollte ab März 2023 folgen, für große Unternehmen bereits zu Jahresbeginn. Die Kommission betonte, dass die Kostenbelastung der Gasverbraucher*innen damit nicht auf das Vorkrisenniveau reduziert werden könne. Vielmehr sollten die Maßnahmen die besonders hohen Belastungen abfedern, die bis zum Erreichen der „neuen Normalität“, also des mittelfristig erwarteten Kostenniveaus, auf die Gasverbraucher*innen zukommen. So sollte verhindert werden, dass die im kommenden Jahr zu erwartenden massiven Preisanstiege Wirtschaft und Gesellschaft überlasten.
Im 33-seitigen Abschlussbericht, den die Vorsitzenden Ende Oktober 2022 Kanzler, Wirtschafts- und Finanzminister vorlegten, konkretisierte die Kommission viele Punkte und legte weitere Vorschläge etwa zum Ausbau des Gasangebotes oder zum Energiesparen vor. Die Gaspreisbremse für Unternehmen wurde an Bedingungen gekoppelt, etwa die Erhaltung des Standorts mittels einer Vereinbarung zwischen Tarif- oder Betriebsparteien. Die Politik beschloss die vorgelegten Vorschläge wenige Wochen später, bereits am 20. Dezember 2022 trat das sogenannte Erdgas-Wärme-Preisbremsengesetz in Kraft. Die Preisbremse deckelte den Gaspreis für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs auf zwölf Cent pro Kilowattstunde. Sie galt bis April 2024.
Für die große Mehrheit der IGBCE-Mitglieder konnte ihre Gewerkschaft durch die Kombination von Preisbremsen, Inflationsausgleichsprämien und Tariferhöhungen in der Krise ein hochwirksames Entlastungspaket schnüren. Eine vierköpfige IGBCE-Durchschnittsfamilie mit Alleinverdiener*in im Chemie-Tarifvertrag hätte allein 2023 rund 3.000 Euro Energiemehrkosten tragen müssen. Durch die Preisbremsen bei Gas und Strom und die erste Stufe der Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1.500 Euro konnte dieses Minus am Ende sogar in ein kleines Plus von 60 Euro gewandelt werden. „Das ist ein Milliarden Euro schweres Inflationsbollwerk für unsere Leute“, so Michael Vassiliadis.